GELSENKIRCHEN – Ein dringliches Plädoyer für die Wertschätzung von Menschen in pflegenden und helfenden Berufen hielt Prof. Dr. Wolfgang Huber beim Neujahrsempfang des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid am 6. Dezember. Es ist bereits Tradition, dass der Kirchenkreis den Reigen der Neujahrsempfänge noch im alten Jahr eröffnet und damit auf seine etwas andere Zeitrechnung hinweist. Denn das Kirchenjahr beginnt mit dem 1. Advent.
Vor zehn Jahren entstand das Diakoniewerk Gelsenkirchen und Wattenscheid e.V., als der Kirchenkreis seinen kreiskirchlichen Dienst der Diakonie in die Vereinsform verselbstständigte. Im Jubiläumsjahr stand das diakonische Handeln der Kirche im Fokus des Empfangs. „Lasst uns Gutes tun und nicht müde werden – Zukünftige Herausforderungen der Diakonie“ lautete das Thema der Evangelischen Zeitansage, für die das Diakoniewerk Prof. Dr. Wolfgang Huber gewinnen konnte. Huber war Theologieprofessor für Sozialethik in Marburg, Bischof der Berlin-Brandenburgischen Kirche und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Ruhestand ist er weiterhin vielfältig aktiv, unter anderem als Mitglied des Deutschen Ethikrates.
Die Diakonie existiere nicht losgelöst von den Wandlungen der Gesellschaft, so Huber, sondern könne sogar als Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen dienen. Das sei am Wandel der Leitbilder diakonischen Handelns deutlich ablesbar. In den siebziger und achtziger Jahren stand dabei die Fachlichkeit im Vordergrund. „Nicht mehr der selbstlose Liebesdienst der Diakonissen, sondern die fachliche Kompetenz in Sozialarbeit und Pädagogik, in Pflege und Medizin prägte die Atmosphäre.“ Die Ausbildungen wurden Schritt für Schritt professionalisiert und akademisiert.
Eine entscheidende Verschiebung fand in den neunziger Jahren statt: „Kostenreduktion hieß nun das Gebot der Stunde; Betriebswirtschaft wurde zur Leitdisziplin.“ Das diakonische Leitbild einer ganzheitlichen Zuwendung zum Menschen drohe, unter diesem Druck der Ökonomisierung zu zerbröseln.
Die derzeitigen Umbrüche in der Gesellschaft beinhalten nach Hubers Ansicht erhebliche Herausforderungen für die organisatorische Gestalt der Diakonie. „Doch genauso wichtig ist es, nach den persönlichen Konsequenzen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fragen. In diesem Zusammenhang lässt sich ein Paradigmenwechsel beobachten. Mitarbeitende wollen einer besonderen Gemeinschaft angehören und von ihr getragen sein. Sie brauchen den Austausch bei belastenden Situationen, beim Tod eines Patienten, bei schwierigen Gesprächen mit Angehörigen. Das hat zur Voraussetzung, dass eine diakonische Einrichtung besondere Anlässe schafft, bei denen Vertrauen gestiftet und das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt wird.“ Wichtig sei dabei auch, die Rahmenbedingungen zu beachten, unter denen die Arbeit geschieht: „Wenn die Pflege als Kandidat für den Mindestlohn gehandelt wird, dann ist das alles andere als ein Grund zum Jubeln.“ Das ökonomische Ungleichgewicht könne nicht hingenommen werden. „Wir brauchen nicht nur eine Globalisierung der Märkte, sondern auch eine Globalisierung der Gewissen.“
In ihrem Grußwort für die Stadt Gelsenkirchen sagte Sozialdezernentin Karin Welge, in dem Termin dieses Neujahrsempfanges schwinge „ein besonderes Selbstbewusstsein mit“. Tatsächlich sei der Kirchenkreis sehr gegenwärtig und eine tragende Säule der Stadt. „Sie spielen mit Ihren Leistungen eine unverzichtbare Rolle bei unserem Ehrgeiz, kein Kind zurückzulassen.“ Superintendent Rüdiger Höcker dankte ihr für diese Wertschätzung vertrauensvollen Miteinanders. Das hebe sich deutlich ab von jüngsten Mediendarstellungen, die Diakonie und Caritas diskreditierten, um ihre kritischen Stimmen zum Schweigen zu bringen. „Wenn uns noch irgendetwas an einer vielfältig starken Gesellschaft liegt, wenn uns damit aus gutem Grund noch viel an Subsidiarität liegt, dann sollten wir gemeinsam daran arbeiten, dass unser Modell gemeinsamer Verantwortung nicht geopfert wird auf dem Altar reiner Marktwirtschaft.“