WATTENSCHEID – Je zwei Erzieherinnen sind für 20 bis 25 Kinder (je nach Gruppenform) da. Sie spielen mit ihnen, regen sie zu eigenen Spielen an, fördern ihre Fähigkeiten und kümmern sich um den Ausgleich ihrer Defizite. So stellt man sich den Alltag im Kindergarten im Allgemeinen vor. Doch tatsächlich hat der moderne Kindergarten weit mehr zu leisten.
Doris Weiß, Leiterin des Martin-Luther-Kindergartens in Wattenscheid, das zugleich ein NRW-Familienzentrum ist, hat einmal aufgelistet, was im Kindergarten über die direkte Beschäftigung mit den Kindern hinaus zu tun ist: Rund 90 Punkte sind dabei herausgekommen.
Zehn Lernbereiche für jedes Kind
Kann das Kind gut mit anderen Kindern? Ist sein Wortschatz altersgemäß? Wie ist seine Fein-, wie seine Grobmotorik? Nach den Grundsätzen zur Bildungsförderung für Kinder von 0 bis 10 Jahren werden die Kinder in zehn Lernbereichen in den Blick genommen. Dafür müssen die Erzieherinnen sich natürlich viel mit den Kindern beschäftigen und sie aufmerksam beobachten. Aber sie müssen sich auch an den Schreibtisch setzen und sorgfältig dokumentieren, wo das Kind in welchem Lernbereich steht. Dafür gibt es zum Beispiel den „Gelsenkirchener Entwicklungsbogen“, die „Kuno Bella Entwicklungstabelle“ oder die „Leuwener Engagiertheitsskala“. Doch damit nicht genug: „Nach einem Jahr füllen wir für jedes Kind die Beobachtungsbögen zur Sprachentwicklung aus“, berichtete Doris Weiß. „Sismik“ heißt der für deutschsprachige Kinder, „Seldak“ der für Kinder aus einer anderssprachigen Familie. Sie fragen Einzelheiten in 15 (Sismik) bis 19 (Seldak) Kategorien ab. Weist ein Kind deutliche Defizite auf, entwickeln die Erzieherinnen Fördermaßnahmen. Manche können im Kindergarten selbst durchgeführt werden. Für andere braucht es Experten. Da sind dann Gespräche mit den Eltern erforderlich, Anträge müssen geschrieben, Nachweise geführt und Termine vereinbart werden.
Im vierten Lebensjahr steht der landesweit vorgeschriebene Test „Delfin 4“ auf dem Programm. Er wird zusammen mit den Grundschulen durchgeführt. Hat ein Kind zusätzlichen Förderbedarf, werden über das Schulamt zusätzliche Mittel zur Sprachförderung beantragt. Auch das ist Aufgabe des Kindergartens. „Alles wird schriftlich dokumentiert“, erklärte Weiß, „das ist immer mit vielen Formularen verbunden.“
Ohne die Eltern geht nichts
Dazu kommen die pädagogischen Programme, die evangelische Kindergärten im Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid selbst durchführen, etwa „Hören – Lauschen – Lernen“ für Kinder, die in einem weiteren Test Anzeichen für eine Lese-Rechtschreibschwäche gezeigt haben, oder „Entdeckungen im Zahlenland“, damit schon die Kleinsten ein freundliches Verhältnis zur Welt der Mathematik entwickeln.
Für Leiterin Doris Weiß sind in all diesen Zusammenhängen immer die Eltern von großer Bedeutung. „Wir können noch so viele Lernspiele mit den Kindern machen, wenn die Eltern nicht mitziehen, verringern sich die Bildungschancen der Kinder deutlich. Das gilt gleichermaßen für alle Bildungsbereiche.“ Deshalb steckt sie mit ihrem Team viel Zeit und Kraft in die Elternarbeit, sowohl in Einzelgesprächen als auch bei Elternabenden. Und sie achtet darauf, aus der Vielzahl der möglichen pädagogischen Programme eine gezielte Auswahl zu treffen. „Das, was wir letztlich machen, das wollen wir auch richtig machen und nicht am Rande so eben noch mit durchschleppen.“ Schließlich gehört zu jedem Programm wieder die Schreibarbeit. Wann welches Kind welche Einheit mitgemacht hat, welche Fortschritte es erzielt hat und wo noch Defizite aufzuarbeiten sind, all das wird festgehalten, ausgewertet und zu den Akten genommen.
Temperaturen und andere Routinen
Neben den Dokumentationen der pädagogischen Arbeit und der Entwicklung jedes Kindes in den zehn Lernbereichen gibt es im Kindergarten noch jede Menge zu verwalten. Das fängt an bei ganz einfachen Routinen. Jeden Tag muss die Temperatur im Kühlschrank abgelesen und schriftlich festgehalten werden. Ist die Liste voll, wird sie eingescannt und sowohl im Computer als auch in Papierform abgeheftet. Wer hätte gedacht, das Thermometer im Kindergarten-Alltag eine so große Rolle spielen? Entsprechende Messungen, Eintragungen und Archivierungen gibt es auch für die Temperatur des Essens bei der Anlieferung sowie unmittelbar vor den Mahlzeiten. Ohne Thermometer, aber genauso akribisch dokumentiert werden die Reinigung der Sanitärbereiche, das Wickeln der Kleinsten oder wann ein Kind wo welches Pflaster bekommen hat – dafür gibt es ein eigenes „Pflasterbuch“.
Solche Routinen lassen sich quasi nebenbei erledigen. Doch es gibt noch mehr. Schulungen müssen durchgeführt werden für alle Mitarbeitenden (und teilweise auch die Eltern) im Blick auf Hygiene, Infektionsschutz und das richtige Verhalten im Brandfall, um nur einige Beispiele zu nennen. Hat ein Kind Anrecht auf Mittel aus „Bildung und Teilhabe“ muss der Kindergarten den entsprechenden Antrag ausfüllen und einreichen. Es gibt jede Menge Pläne: für den Dienst, für den Urlaub, für die Speisen, für die Finanzen...
„Als ich einmal angefangen hatte, aufzuschreiben, was im Kindergarten alles zu tun ist, war ich selbst überrascht, wie viele Punkte da ganz schnell zusammenkommen“, sagte Doris Weiß, die seit 31 Jahren die Leitungsverantwortung trägt. „Wir bekommen das in unserem Team ganz gut hin, weil es auf viele Schultern verteilt wird. Aber der Verwaltungsaufwand hat im Laufe der Jahre stark zugenommen. Das finde ich bedenklich, denn schließlich wollen wir in erster Linie für die Kinder da sein und ihnen unsere Zeit widmen.“