GELSENKIRCHEN – Mit etwa 70 Zuhörern ist die Bleckkirche fast komplett gefüllt. Sie wurde nicht durch Zufall für die Konzertpremiere ausgewählt: Seit über zehn Jahren ist sie als „Kirche der Kulturen“ ein beliebter Veranstaltungsort. „Dieses Konzert enthält die Stimmen des Volkes. Vielfältige Stimmen sollten es sein“, erklärt Pfarrer Thomas Schöps nach der Begrüßung, „Wenn unser Volk 95 Thesen aufstellen würde, um eine Reformation der Gesellschaft anzustoßen, wie würden die lauten? Ich bin dankbar, dass zwei Kulturschaffende unserer Stadt sich so intensiv mit dem Reformationsjubiläum auseinandersetzen.“ Gemeint sind die beiden Autoren des Konzerts: der Schauspieler und Theaterpädagoge André Wülfing und der Komponist Michael Em Walter.
Schöps lässt sich nicht nehmen, das Publikum zu erinnern: „Gehen Sie wählen! Das ist ein Recht, das unser Land blutig und mit viel Mühe erkämpft hat.“ Anschließend nehmen die sieben Instrumentalisten und der neunköpfige Chor ihre Positionen im Altarraum ein. Rainer Maria Klaas dirigiert vom Klavier aus. Drei Streicher, eine Oboe und eine Posaune spielen düstere, schwere Klänge ohne richtige Melodie. Der Chor steht auf und berichtet teils singend, teils sprechend von einem gewissen Martin L. Tisch, der am 9. November 1989 in Wittenberg geboren wird. Sogleich folgt ein Sprung ins Jahr 2015: „Die Menschen kommen von Süden. Sie fliehen den Krieg und das Elend und prüfen die gefallenen Mauern der erhofften offenen Gesellschaft. Die Welt klopft an mit hämmernden Schlägen und bittet verzweifelt darum, dass man mit ihr teile.“
Die da oben tun, was sie wollen
Martin L. Tisch, dargestellt von André Wülfing, betritt die Bühne. Er bezeichnet sich als einen „Mönch des demokratischen Kapitalismus“. Unterlegt von dem nervösen Geklacker der Holzblocktrommeln des Percussionisten, fragt der Chor ihn: „Wie willst du leben? In welcher Gesellschaft willst du leben? In was für einem Land?“
Im nun beginnenden zweiten Akt trägt Wülfing alias Martin L. Tisch die Thesen vor, die er unter dem Leitsatz „Was würde Luther heute fordern?“ in den letzten 1 ½ Jahren in ganz Deutschland gesammelt hat: „Dies Deutschland, dieses sag ich frei, ist nicht Nation, recht mehr noch: klug gediehen: Wertgemeinschaft!“ Diese erste These leitet die Rubrik „Unser Land als Heimat“ ein. In der zweiten Rubrik steht das politische System im Mittelpunkt: „Mit dem Grundgesetz aber sind wir in bester Verfassung! Geschrieben von Minderheiten, schützt es die Vielfalt des Individuellen.“ Wülfing rezitiert die Thesen ruhig und unbeeindruckt von dem Geschrei der Volksmenge, das der Chor darstellt: „Die da oben tun und lassen, was sie wollen. Wir hier unten: Ausgeliefert, übergangen! Mitbestimmung gilt für manche, nicht für alle!“ In der dritten Rubrik kommt Wülfing, unterlegt von dem Donner der großen Trommel, auf die Wirtschaft zu sprechen: „Das herrschende System der Wirtschaft und des Marktes in seiner heutigen Form, rein kapitalbegründet, ist lebensfremd und zukunftsfeindlich, Menschen verachtend.“
Vibraphon-Akkorde wie ein Heiligenschein
Die Thesen, die Wülfing über einer experimentellen, teilweise ziemlich schrägen Musikbegleitung vorträgt, verbinden brandaktuelle Themen mit einem mittelalterlichen Sprachstil, wie Luther ihn selbst benutzt haben könnte. So auch in der Rubrik „Deutschland in der Welt“: „Europas 800 Millionen Menschen sind die Globalisierungsgewinner. Sie sind der heutige Adel der Welt, seine Ständeschranken sind die Außengrenzen der EU.“ Die letzten beiden Rubriken enthalten Thesen zu gesellschaftlichen Werten und Religion. Vor den letzten Thesen stimmen die Frauen des Chores einen Choral an, während die Männer den auseinander gerissenen Text des Vaterunser einwerfen. Die letzten Thesen fordern die Kirchen auf, sich immer zu erneuern, die Rechtfertigungslehre abzuschaffen, den Dialog untereinander nicht zu verweigern und ein „humanes Weltdasein“ zu verwirklichen – unterstützt mit Vibraphon-Akkorden, die wie ein Heiligenschein über dem gesungenen und gesprochenen Text schweben.
Die Komposition verbindet eine groß angelegte Kritik an der aktuellen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit Luthers Reformideen von vor 500 Jahren. Trotz Michael Em Walters experimenteller und bisweilen gewöhnungsbedürftiger Tonsprache wird die Polemik gegen die „Hohepriester der freiheitlich-parlamentarischen Demokratie, die Erzbischöfe des Kapitalismus“ mehr als deutlich.