Jedes Mal eine Gänsehaut

Die Leidensgeschichte Jesu wird von Laiendarstellern eindrucksvoll in Szene gesetzt

Passionsspiele in Gelsenkirchen-Rotthausen: Weder Schminke noch Perücke braucht Jesse Krauß, um in der Rolle des Jesus zu überzeugen.

Die Kirche wird in die Aufführung mit einbezogen. So findet die Wassertaufe Jesu durch Johannes am Taufstein statt.

Misstrauisch stehen die Hohepriester am Rande und beobachten, wie Jesus im Volk immer beliebter wird.

Treue Gefolgsleute, aber am Ende wird der eine Jesus verleugnen und der andere ihn verraten: Petrus (rechts) und Judas. FOTOS: CORNELIA FISCHER

GELSENKIRCHEN – Passionsspiele, nicht auf den Freilichtbühnen von Oberammergau oder Eureka Springs (Arkansas, USA), sondern in einer Kirche, einer evangelischen noch dazu und das alles mitten im Ruhrgebiet, in Gelsenkirchen – wie geht das denn? Wenn die Kirche dunkel wird und der Altarraum in helles Licht getaucht ist, wenn eine Frau aus dem Volke Israel erzählt, wie alles anfing, und dann Johannes der Täufer das Volk beschimpft und zugleich bezaubert, wenn schließlich auch Jesus vor dem Taufbecken niederkniet – dann ist das Publikum von der ersten Szene an mittendrin. Die Geschichte vom Leben und vom Leidensweg Jesu wird so intensiv lebendig, als sei man selber dabei, und in gewisser Weise ist das ja auch so.

Kaum zu glauben, dass hier bis auf wenige Ausnahmen Männer und Frauen agieren, die noch nie auf einer Bühne gestanden haben. „Sie sind mit Begeisterung dabei und geben sich die allergrößte Mühe“, zeigt sich Regisseur Elmar Rasch von seinem Ensemble beeindruckt. Beeindruckend ist aber auch, was er in fast fünf Monaten Probenzeit aus ihnen herausgeholt hat. Die Darsteller sind drin in ihren Rollen und überzeugen mit ihren Gefühlen, mit voll tönenden Stimmen und wortreichen Gesten. „Man muss sich da so reinsteigern, dass die Leute sagen: Guck mal, der fiese Möpp“, bringt es Hermann Reck, der den Hohepriester Nathanael spielt, auf den Punkt. Er kommt aus Essen und hat viel Erfahrung als Laiendarsteller am Kleinen Theater am Gänsemarkt. Dort werden überwiegend Komödien gespielt – und als er von dem Passionsprojekt las, sah er darin eine gute Gelegenheit, sich mal an einem ernsteren Thema zu versuchen. „Das ist ganz schön schwierig, weil Nathanael zum Todesurteil für Jesus beiträgt. Da muss ich gegen meinen eigenen Willen spielen.“

 

Da fängt es an zu kribbeln

Noch eindrucksvoller wird die Leistung des Ensembles auf dem Hintergrund des Bühnenbildes. Denn eigentlich gibt es gar keines. Die Handlung spielt sich überwiegend im Altarraum ab. Darin werden einmal zwei kleine Tische (für die Händler im Tempel zu Jerusalem) aufgebaut, aber das war es dann auch schon. Rasch: „Irgendwann habe ich zu mir gesagt: Das ist hier eine Kirche und kein Theater. Was sollst Du diesen wunderbaren Altar hinter Wänden verstecken?“ Nur die Kreuzigungsszene findet auf der Orgelempore über dem Altar statt.

Ort des Geschehens ist die Evangelische Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen. Sie hat tatsächlich keine ‚richtigen’ Namen, sie heißt einfach ‚Evangelische Kirche’. Vor zwei Jahren ermöglichte die dortige Kirchengemeinde es dem Ensemble von Bühne im Revier (BIR), seine Proben im Gemeindehaus hinter der Kirche abzuhalten. Über diesen Kontakt kam Elmar Rasch, Regisseur und Schauspieler der BIR, auf den Gedanken, die Passionsgeschichte noch einmal ganz neu in Szene zu setzen. Das Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Rotthausen ließ sich von dem Projekt überzeugen und das Kulturreferat der Stadt steuerte zur Finanzierung Mittel aus dem Kulturcent bei.

Beim öffentlichen Castings gab es zwar keine lange Schlange um den Häuserblock, aber es fanden sich genügend engagierte Laien aus Rotthausen und Umgebung, die bereit waren, für dieses Projekt viel Zeit und Kraft zu opfern. Von September bis Februar fanden zwei- bis dreimal in der Woche Proben statt. „Das war erst einmal ganz schön trocken, die einzelnen Szenen durchzugehen.“ Rasch weiß, was er seinen Darstellern im Alter von 20 bis 80 Jahren zugemutet hat. Doch im Endspurt auf die Premiere zu hat das Ganze Gestalt angenommen. „Gerade mit der Musik“, sagt Klaus Neuhaus aus Bochum, der einen Mann aus dem Volke gibt, “das ist ein Sound in der Kirche, da fängt es an zu kribbeln.“

 

Judas wollte die Bewegung voranbringen

Kribbeln ist noch ein zu schwaches Wort dafür, was Alexander Welp empfindet, wenn er als Judas die Begegnung mit Jesus beim letzten Abendmahl hat. „Wir haben die anderen Jünger ausgeblendet und stehen uns allein gegenüber. Die Szene ist so eindrücklich und bedrängend, dass ich dabei jedes Mal eine Gänsehaut bekomme.“

Welp kannte die Passionsgeschichte in groben Zügen und findet sie inzwischen „wahnsinnig faszinierend“. Der 21-Jährige studiert Germanistik. „Während der Proben musste ich Klausuren schreiben. Das kam gut hin, weil die abendlichen Proben ein guter Ausgleich dazu waren.“

Seine Rolle als Jünger, der zum Verräter an Jesus wird, hat sich während der Arbeit an den Szenen entwickelt. „Wir haben uns Gedanken darüber gemacht, warum Judas das tut, und verstehen es so, dass er die Bewegung voranbringen und Jesus zum Widerstand gegen die Besatzungsmacht aufstacheln wollte. Als er merkt, was er tatsächlich angerichtet hat, dass Jesus seinetwegen zum Tode verurteilt wird, ist er nur noch ein Häufchen Elend.“

 

Jesus kann ziemlich wütend werden

Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben sich auch mit anderen Rollen intensiv auseinander gesetzt. Christina Lehmann aus Marl gibt eine Frau aus dem Volke und fungiert als Erzählerin. Sie kannte die Passionsgeschichte zwar gut, hat sie aber in den Proben „noch einmal ganz anders erlebt. Sie ist mir viel näher gekommen. Wir haben darüber diskutiert, wie das wirklich war, nicht nur im Blick auf die Rolle des Judas, sondern auch in Bezug auf Pilatus und den Hohen Rat.“ So haben sich die Texte bei der Probenarbeit noch einmal verändert und weiter entwickelt.

Die Rolle des Jesus in dieser Inszenierung spielt Jesse Krauß. Sogar in Jeans und T-Shirt wäre er überzeugend – im Kostüm und mit den Fähigkeiten, die er sich unter Raschs Regie angeeignet hat, ist er nahezu überwältigend. Von Beginn an strahlt er einerseits ein ruhiges Sendungsbewusstsein aus, wenn er einen Blinden sehend macht. Andererseits kann dieser Jesus ganz schön wütend werden, wenn er die Tische der Händler und Wechsler im Tempel verwüstet. Der 32-Jährige arbeitet im richtigen Leben als Illustrator, Designer und Grafiker.

Das Ensemble unter Elmar Rasch hofft nun sehr darauf, dass sich für den ehrgeizigen Aufführungsplan genügend Zuschauer finden. Einzelpersonen sind ebenso willkommen wie Gruppen. Nach der Premiere am Aschermittwoch folgen bis zum 1. April (Ostermontag) 14 weitere Vorstellungen (rund 2 Stunden inklusive Pause).

Den Spielplan, Eintrittspreise und Ticketreservierungen gibt es auf www.buehneimrevier.de