GELSENKIRCHEN – Evangelische Religionslehrerinnen und Religionslehrer unterrichten am Berufskolleg häufig vor gemischt-religiösen Klassen. So kommt es vor, dass sie auch auf Schülerinnen und Schüler alevitischen Glaubens treffen. Deshalb lag es nahe, dass das Referat Berufskolleg des Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid am 24. Juni zu einem Besuch bei der alevitischen Gemeinde Gelsenkirchens im Alevi-Bektaschi Kulturzentrum in der Kirchstraße 85 eingeladen hatte.
Wer sind die Aleviten? Was glauben und wie leben sie? Um diese und ähnliche Fragen ging es im Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der alevitischen Gemeinde. Hayriye Aksu, die erste Vorsitzende, brachte die Antwort auf die erste Frage mit einem simplen Vergleich auf den Punkt: „Wir Aleviten haben einen demokratischen Zugang zum Glauben. Verglichen mit den beiden großen Konfessionen der Kirche könnte man die sunnitischen Moslems als katholisch und die Aleviten als evangelisch bezeichnen.“ Tatsächlich spielt das „Priestertum aller Gläubigen“ bei den Aleviten eine große Rolle. Auch und gerade wenn es um die Geschlechtergerechtigkeit geht. Gürbüz Şimşek, der Dede (Geistliche) der Gemeinde, stellte fest: „Wir wollen die Gleichberechtigung für Frauen.“ Angesprochen auf weitere Glaubensgrundsätze zitiert er einen alevitischen Philosophen: „Bete nicht mit den Knien, sondern mit dem Herzen.“ Und: „Meine Kaaba (islamisches Heiligtum in Mekka) ist der Mensch.“ Gönül Kalender, die Schriftführerin der Gemeinde, gab eine für das Alevitentum typische tolerante Grundhaltung zu erkennen: „Mir ist es egal, ob jemand Alevit oder Sunnit ist, die Hauptsache ist der Mensch.“
Die Glaubensgrundlagen der Aleviten gehen auf die Zeit der Entstehung des Islam zurück. So leitet sich ihr Name her vom Kalifen Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Entstanden ist das heutige Alevitentum dann vom 13. bis 16. Jahrhundert in Anatolien. Gegenwärtig leben in der Türkei rund 20 Millionen Aleviten. Nach jahrhundertelanger Verfolgung führen sie noch immer einen Kampf um Anerkennung. „In der Türkei erfahren wir Ausgrenzung und haben Angst, uns zum Alevitentum zu bekennen. Die 700 000 Aleviten in Deutschland genießen dagegen mehr Freiheiten“, sagte Şimşek. Nach dem Anschlag auf das Madımak-Hotel in der zentralanatolischen Stadt Sivas im Jahr 1993, bei dem 37 überwiegend alevitische Menschen ums Leben gekommen sind, wächst hingegen das Selbstbewusstsein der Glaubensgemeinschaft. „Vor etwa 20 Jahren fingen wir an, uns öffentlich zum Alevitentum zu bekennen“, erinnert sich Recai Eroglu, der Kassierer der Gemeinde. Bleibt zu hoffen, dass der türkische Staat dieses Bekenntnis achtet. „Ein Anfang könnte die Errichtung einer Gedenkstätte für die Opfer des Sivas-Massakers sein“, meinte Şimşek. DB