„Früher wurde der Tod erlitten. Heute will das Sterben gestaltet werden.“ Lebhafte Diskussion folgt auf Impulsvortrag von Annette Kurschus.

GELSENKIRCHEN – 2020 hat das Bundesverfassungsgericht die Beihilfe zur Selbsttötung als nicht strafbar erklärt. Doch damit sind eher mehr als weniger Fragen entstanden. Wie soll mit dem Urteil umgegangen werden, welche Formen dieser Beihilfe gibt es eigentlich, gilt das Urteil eigentlich für jeden? In jeder Lebenssituation? Und wie können wir Christen damit umgehen, wenn jemand seinem Leben ein Ende setzen möchte?

Dr. Annette Kurschus bei ihrem Vortrag

Anschließende Diskussion mit den Teilnehmenden

Am Mikrofon: Antje Grüter, Pfarrerin der Kirchengemeinde Gelsenkirchen Nord

„Leben bis zuletzt oder assistierter Suizid?“ Viele Interessierte mit vielen Fragen und Anregungen kamen zu diesem Thema im Gemeindezentrum der Apostelkirche zusammen. Eingeladen hatte die Evangelische Kirchengemeinde Gelsenkirchen-Nord. Gekommen waren Besucherinnen und Besucher aus dem gesamten Kirchenkreis, aber auch aus angrenzenden Gemeinden.

Gemeindepfarrerin Antje Grüter begrüßte die Anwesenden, die in einem großen Kreis Platz genommen hatten: „Wir wollen Sie miteinander und mit Frau Dr. Kurschus ins Gespräch bringen.“

Die Pastorin und Seelsorgerin der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Annette Kurschus, eröffnete die Veranstaltung mit einem Impulsvortrag. Dabei beleuchtete sie die theologischen, ethischen und seelsorgerlichen Aspekte: „Ich beginne mit einer gewagten These: „Früher wurde der Tod erlitten. Heute will das Sterben gestaltet werden.“ Das klinge vielleicht zunächst positiv, weniger passiv, weniger ausgeliefert, bringe aber durchaus auch eine Menge schwieriger Fragen mit sich. „Wo verlassen wir die Grenzen des Menschlichen und Machbaren, wo kippt aller Segen des Fortschritts, der bisher Unmögliches möglich macht, um in einen unbarmherzigen Fluch, dem wir nicht mehr entrinnen können?“ Sterben war auch früher nicht unbedingt schön, aber es war Teil des Lebens. Meist fand das Sterben zu Hause statt. Es gab vertraute Rituale. Heutzutage kann die Medizin vielfältig in den Sterbeprozess eingreifen, ganz neue Aufgaben entstehen nun am Lebensende. „Das Sterben wird zunehmend zu einer gestalterischen Aufgabe, die sich aktiv planen und gestalten lässt: Wann, wie und unter welchen Umständen will ich einmal sterben – bzw. was will ich bei meinem Sterben auf gar keinen Fall?“

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mache klar, dass zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch die Freiheit gehöre, sich das Leben zu nehmen. Zu dieser Freiheit gehöre auch, sich die Hilfe Dritter zu suchen. „Die gesetzliche Lage ist - was die konkrete Praxis des assistierten Suizids betrifft – derzeit offen.“

Während die Menschen in früheren Zeiten die größte Angst vor einem plötzlichen Tod hatten, ist heute langes Sterben unter qualvollem Siechtum wohl die schlimmste Vorstellung. „Darum gehören die Fragen rund um die Hilfe beim Sterben und die Hilfe zum Sterben zu den gesellschaftlichen Themen der letzten Jahre, die die Menschen besonders stark berühren und bewegen.“

Und die Kirche selbst habe gelernt, den Suizid als Tragik und nicht als Sünde zu verstehen. „Wer in Situationen größter und anhaltender Ausweglosigkeit sein Leben beenden will und wer sich – nach Prüfung des Gewissens vor Gott – dazu entschließt, einem anderen Menschen dabei beizustehen, soll nicht die Verurteilung der Kirche fürchten müssen.“ Aber die Theologin betonte auch ganz deutlich: „Wir als Christinnen und Christen müssen dafür sorgen, dass Menschen sich nicht das Leben nehmen, dass ihnen Hilfen angeboten werden!“

Zu vielen Aspekten, die in dem Vortrag angesprochen wurden, brachten viele Anwesende an diesem Abend ihre Fragen, Anmerkungen, selbst Erlebtes in der folgenden, sehr lebhaften Diskussion ein. Schnell wurde deutlich, den einen klassischen Fall, dass jemand sich wünscht, sein Leben zu beenden, den gibt es nicht. So berichtete eine Teilnehmerin, dass sie vor einigen Jahren in einer tiefen Krise den Wunsch hatte, zu sterben. Doch sie habe mittlerweile wieder Lebensmut gefasst und erfreue sich am Leben. Andere berichteten, dass der Wunsch zu sterben auch aus fehlender Hilfe zum Leben entstehen kann. Einsamkeit und fehlende Perspektiven ließen Menschen in verschiedensten Lebenskrisen an einen Suizid denken. Eine Hospizmitarbeiterin sprach auch darüber, wie belastend es sei, wenn keine eindeutige Patientenverfügung vorliege und sie deshalb diesen schwerkranken Menschen nur pflegen könne, ihm aber keine Hilfe zum Suizid geben dürfe.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Barbara Rose, die lange Zeit in der Telefonseelsorge tätig war. „Ich finde gut, dass ich mit Ihnen über das Thema reden kann.“ Solche Sätze habe sie dabei häufig gehört von Anrufenden, die es als eine Entlastung empfanden, ohne Schuldgefühle mit jemanden über ihre Gedanken, das Leben zu beenden, reden zu können.

Mehr Hilfe zum Leben statt zum Sterben, das wünschten sich Teilnehmende in dieser Runde. Eine 90-jährige krebskranke Frau ergriff geradezu fröhlich gegen Ende der Veranstaltung das Wort: „Ich möchte für mich jetzt nur noch palliative Hilfe. Doch ich will leben, solange es geht. Ich hoffe, ich brauche keinen, der mir irgendwann dabei hilft zu gehen.“

Und es gab auch den klaren Wunsch an die Kirche, nicht so viele Gemeindehäuser und Treffmöglichkeiten für Ältere zu schließen, denn auch das würde zur weiteren Vereinsamung beitragen.  

Text: Frauke Haardt-Radzik
Fotos: Cornelia Fischer