Braucht Gelsen Kirchen noch?

Interview der WAZ mit Superintendent Heiner Montanus

Vor wenigen Wochen fragte die WAZ Gelsenkirchen den Stadtdechanten Markus Pottbäcker, wie es um die Zukunft der katholischen Kirche in Gelsenkirchen bestellt ist. Denn während es vor 20 Jahren noch 38 katholische Kirchen in Gelsenkirchen gab, werden es in ein paar Jahren nur noch sieben oder acht sein. „Das sind große Zahlen und das sind große Veränderungen, aber es ist einfach die Anpassung an die Realität. Denn tatsächlich sind nicht nur die Finanzen für uns ein großes Problem, sondern auch der enorme Schwund an katholischen Christinnen und Christen. Leider sei es so, dass die Gotteshäuser in Gelsenkirchen nur noch im sehr eingeschränkten Maße vorgehalten werden können, aber wir halten sie vor und wir werden auch in Zukunft noch weiter Kirchen vorhalten“, antwortete Pottbäcker.

Ähnlich antwortet nun auch der evangelische Pfarrer und Superintendent Heiner Montanus auf die Frage nach der Zukunft der Kirchen in Gelsenkirchen.

Also Herr Montanus, brauchen die Gelsenkirchener und Gelsenkirchenerinnen die Kirchen noch?

Sie fragen mich, und ich antworte Ja! Selbstverständlich. Weil dieses Stadt Orte braucht, an denen Gemeinschaft erlebt wird und die offen sind für Begegnung. Das sage ich als Einwohner der Stadt. Und dabei fallen mir selbstverständlich auch andere Orte ein, die das bieten: Kindergärten, Vereinsheime, Schulen, Arena, Stadtpark, Wochenmarkt, … Hinzu kommt: Kirchen und deren Türme prägen das Stadtbild und stehen auch für einen Ort, an dem ich mich zu Hause fühle.

Als Christ sehe ich, dass noch mehr dafür spricht, dass Gelsenkirchen Kirchen braucht: Kirchen sind Orte, an denen ich etwas höre, was ich sonst nirgendwo höre: Ich werde geliebt. Ohne Wenn und Aber. Ich bin ein wertvoller Mensch. Und dass nicht, weil ich etwas leiste. Ich bin willkommen. Wir dürfen zuversichtlich sein. Auch wenn vieles im Dunklen liegt.
Kirchen sind Orte, an denen Menschen in diesem besonderen Licht erscheinen. Im Licht Gottes. Wichtig ist mir folgende Einschränkung oder Ausweitung: Die Kirche als Organisation kann dieses Licht Gottes nicht in einem Raum einsperren. Es umstrahlt auch Menschen außerhalb von Kirchenräumen. Darum muss die Kirche als Organisation mehr tun, als Menschen in ihre Gebäude einzuladen. Sie muss auch raus aus den eigenen Mauern. Raus dorthin, wo Menschen sich begegnen und Gemeinschaft 
erleben. Denn auch dort sind sie Menschen, die im Licht Gottes stehen. Ich bin davon überzeugt: Unser Gott ist kein Gott der Steine, sondern ein Gott der Menschen. Die Nähe zu den Menschen ist typisch für ihn.

Wie sieht die Zukunft aus? Was passiert mit den nicht mehr genutzten Gotteshäusern?

Am traurigsten wäre es, wenn nicht mehr genutzte Gotteshäuser leer stehen und verfallen würden. Denn dann wären sie keine Orte der Gemeinschaft und der Begegnung und auch nicht mehr Orte, an denen der Glaube lebt. Sie wären nur noch (oder immerhin noch) Teil des Stadtbildes, insbesondere durch ihre Türme.
Daher ist es das Ziel des Kirchenkreises, die Kirchengemeinden darin zu unterstützen, leerstehende Kirchengebäude einer sinnvollen Folgenutzung zur Verfügung zu stellen. Sie sollen weiterhin oder wieder neu Orte des Lebens sein.
Ein Beispiel: In Hassel wurden Wohnungen in die Markuskirche bebaut. In einer war ich vor Weihnachten zu Gast. Gemütlich, schön. Innen nicht wiederzuerkennen. Und zugleich von außen immer noch eine Kirche. Weitere Ideen für eine Folgenutzung: ein diakonisches Zentrum, eine Kindertageseinrichtung, ein Atelier, ein Stadtteilzentrum, ein Architekturbüro, eine Schreinerwerkstatt …

Wichtig ist: Es darf nicht bei meinen Ideen bleiben. Die Ideen dürfen nicht nur im binnenkirchlichen Bereich entstehen. Wir brauchen Kreativität von außen! Das ist eine Einladung!
Aktuell sucht der Kirchenkreis nach einer zündenden Idee für die Bleckkirche. Dort hat evangelische Kirche in Gelsenkirchen vor vielen hundert Jahren angefangen. Jetzt wird sie für Gemeindearbeit nicht mehr genutzt. Sie liegt direkt am Zoo, dicht am Kanal. Aber alle Überlegungen und Gesprächsrunden, was denn zukünftig die Bleckkirche beleben könnte, sind bisher ohne Ergebnis geblieben.

Was entgegnen Sie den enttäuschten Gläubigen und Nutzern ihrer Angebote in den Quartieren? Können Sie verstehen, dass sich die Betroffenen mitunter ausgerechnet von der Kirche im Stich gelassen fühlen?

Ich habe Verständnis für deren Enttäuschung. In ihr zeigt sich (so sehe ich das) deren Verbundenheit mit einem kirchlichen Gebäude. Für einige gehören „die Kirche“ und „der Turm“ einfach zum Stadtbild und prägen ihr Wohnumfeld mit. Andere verbinden mit der Kirche besondere Ereignisse in ihrem Leben: Hier haben sie geheiratet. Hier sind ihre Kinder getauft und konfirmiert worden. Hier besuchen sie den Gottesdienst. Hier trifft sich ihre Gruppe regelmäßig. Da kommen also Erinnerungen, Lebens- und Familiengeschichte, Gemeinschaft, Begegnung, Glauben zusammen. Das schafft auch eine emotionale Bindung an ein Gebäude. Und das ist doch unser Anliegen als Kirche: Beziehung, Bindung, Glauben mitten im Leben. Wenn dann dieser Ort – „meine Kirche“ – geschlossen werden soll, ist das mehr als ein sachlicher Akt. Es kann einem im Herz wehtun.
Dem habe ich nichts entgegenzusetzen. Dem kann ich nur zustimmen. Ich kenne das übrigens aus eigener Erfahrung: Dieses besondere Gefühl, das aufkommt, wenn es um besondere Gebäude geht. Um Gebäude, die für mich besonders sind: mein Elternhaus, das Freizeitheim mitten im Wald, in dem ich früher sehr oft war, die Kirche, die zu meiner ersten Pfarrstelle gehörte…
Und dann gibt es da noch eine andere Seite: Die Lebensbedingungen verändern sich. Und ich muss mich anpassen. Manchmal fällt es mir leicht, manchmal schwer. Manchmal werde ich gefragt, manchmal nicht.
Konkret: Meine Mutter ist gestorben, mein Vater gerade ins Altenheim umgezogen. Was ist jetzt das Elternhaus, wenn meine Eltern dort nicht mehr leben? Immer noch ein Ort voller Erinnerungen. Jetzt auch ein trauriger Ort. Und ich besuche meinen Vater an seinem neuen Ort. Gewünscht habe ich mir das nicht; weder für ihn noch für mich. Lebensbedingungen haben sich verändert.
Solche Lebensbedingungen gibt es auch bei Kirchen. Auch Lebensbedingungen, die sich ändern. Dazu habe ich oben einiges geschrieben: Gemeindeglieder- und Besucherzahlen, Finanzen, steigende Kosten… Darauf müssen Menschen reagieren. Darauf müssen sie reagieren, weil sie Verantwortung tragen. Wem die Wohnung zu groß oder die Miete zu hoch wird, sucht nach einer Alternative. Da geht es einem Presbyterium, das Verantwortung trägt für eine Gemeinde, nicht anders. Es muss reagieren. Nichts zu tun, wäre unverantwortlich.

Ich erlebe durchweg Presbyterien, die über die Zukunft ihrer Gebäude beraten. Und die sich damit schwer tun. Sie fragen sich, ob wirklich alle Möglichkeiten bedacht wurden. Sie überlegen, ob wirklich jetzt entschieden werden muss. Sie ahnen, was eine Entscheidung für andere Menschen bedeutet. Und: Sie spüren, was eine Entscheidung auch für sie selbst bedeutet. Schließlich hängen sie oft auch an einer bestimmten Kirche.
In der Regel ist es so, dass es „die eine richtige Lösung“ nicht gibt. Die Lösung also, der alle zustimmen. Die keinen Protest hervorruft. Die niemanden enttäuscht. Und dennoch muss entschieden werden. Weil Presbyterien Verantwortung tragen und diese 
wahrnehmen wollen. Was tun? Was tun, wenn es kein „weiter so“ geben kann? Wenn es keine Option ist, ein Gebäude weiter offen zu halten und zugleich zu wissen, dass man in seinen Erhalt kein Geld mehr investieren kann?
Ich sehe dreierlei: Zum einen: Reden und hören und fragen. Erläutern, Auskunft geben. Die Menschen einladen, deren Herz an einer Kirche hängt. Ihnen zeigen, dass sie wichtig sind. Dass man ihren Wunsch nach Erhalt eines Gebäudes versteht, auch wenn man ihn nicht erfüllen kann. Dazu gehört auch: Fair mit denen umgehen, die die eigenen Wünsche nicht erfüllen.
Zum anderen: Trauern. Sich Zeit nehmen für den Abschied. Also nicht „Augen zu und durch“. Sondern hinsehen: Was ist und was das Besondere dieses Ortes? Erzählen: Warum ist er mit und anderen so ans Herz gewachsen? Ahnen: Was wird mit fehlen, wenn ich diesen Ort nicht mehr habe?
Schließlich: Von der Hoffnung reden. Wie könnte etwas von dem, was mir am Herzen liegt, weiterleben? Wo könnte das, was mir und anderen wichtig ist, einen neuen Ort finden? Wer geht den Weg dorthin mit? Und: Gibt es in allem Schweren auch eine neue Chance, eine neue Perspektive? Für mich und das, was ich festhalten will? Für andere, auch für die, die bisher bei uns keinen Ort hatten?

Ungekürzte Form des WAZ-Interwiews mit Herrn Sinan Sat