Beruf ist mehr als Geld verdienen

Die Evangelische Jugendberufshilfe setzt auf ganzheitliche Bildung der Identität

 

„Rauchen passt nicht zu mir“ hat Oliver Baumgärtner (links) gleich beim ersten Gespräch mit Andreas Hütter festgestellt. Die zerknüllte Zigarettenschachtel fand Sabine Sinagowitz später im Büromüll – und fischte sie zur Erinnerung gleich wied

„Rauchen passt nicht zu mir“ hat Oliver Baumgärtner (links) gleich beim ersten Gespräch mit Andreas Hütter festgestellt. Die zerknüllte Zigarettenschachtel fand Sabine Sinagowitz später im Büromüll – und fischte sie zur Erinnerung gleich wieder heraus. FOTO: CORNELIA FISCHER

Oliver Baumgärtner mit seinem "Trainer" Andreas Hütter. FOTO: SASI

Oliver Baumgärtner mit seinem "Trainer" Andreas Hütter. FOTO: SASI

GELSENKIRCHEN – Oliver Baumgärtner hatte keine Lust auf Schule. „Ich bin schon morgens mit schlechter Laune aufgestanden.“ Nach der Hauptschule besuchte er ein Berufskolleg, „aber ich war überhaupt nicht motiviert und habe nur so in den Tag hinein gelebt.“ Irgendwie hatte er das Gefühl, er stecke fest. Heute steht der 18-Jährige morgens auf, isst ein ordentliches Frühstück, treibt Sport, macht seine Hausaufgaben und tritt anschließend einen langen Schulweg an: von Gelsenkirchen nach Krefeld. Dort besucht er die Abendrealschule. Er kommt in allen Fächern mit und freut sich über jede gute Note.

Das Geheimnis dieses Erfolges ist beim Evangelischen Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid zu finden, genauer: bei der Evangelischen Jugendberufshilfe. Sozialpädagogin Sabine Sinagowitz, die für diesen Arbeitsbereich verantwortlich ist, hat das Programm „bmi 20.10 - building my identity“ (meine Identität bilden) entwickelt. Baumgärtner kannte Sinagowitz aus der Hauptschulzeit in Gelsenkirchen und wandte sich an sie, um aus seinem gefühlten Morast herauszukommen. „Baumgärtner entsprach genau der Zielgruppe für bmi“, so Sinagowitz. „Bei Schwierigkeiten neigen junge Leute schon mal dazu, wegzulaufen oder den Kopf in den Sand zu stecken. bmi gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Identität ganzheitlich zu bilden.“

Wer in das Programm einsteigt, bekommt erst einmal einen „key for you“ (Schlüssel für dich). Dabei hat Baumgärtner sich selber ganz neu entdeckt. Er musste sich darüber klar werden, welche Eigenschaften er hat („Ich bin eher schüchtern“), was er gut kann („mit Menschen umgehen“) und vor allem: Was ihm Freude macht. Schon dieser eine Tag wurde für den jungen Mann tatsächlich zum „Schlüsselerlebnis“. – „Ich hatte auf einmal eine ganz neue Sicht auf die Zukunft. Vorher hatte ich mich immer nur gefragt, wie ich möglichst viel Geld verdienen könnte. Jetzt wurde mir plötzlich klar, wie wichtig es ist, Spaß zu haben am Beruf, etwas zu tun, was zu mir passt.“

Nach dem „key for you“ ging es erst richtig los. Zwei Monate lang traf sich Baumgärtner jede Woche für anderthalb Stunden mit Andreas Hütter. Er ist von Haus aus Physiotherapeut. Über die Arbeit mit Jugendlichen im Leistungssport hat er entdeckt, dass ein ganzheitlicher Ansatz für Jugendliche am besten ist. „Körper, Geist und Seele gehören zusammen“, beschrieb er seine Arbeit. Sinagowitz hat dafür die griffige Formel „Kopf und Herz und Hand – zu dritt bin ich stark!“ geprägt.

Hütter arbeitet auf allen drei Ebenen: Körperarbeit, Yoga und Meditation gehören ebenso dazu wie Selbsterfahrung und –suggestion. „Oliver sollte sein Ziel, das Abitur, verinnerlichen. Dazu habe ich ihn angeleitet, sich das in allen Farben auszumalen: Wie er das Zeugnis bekommt, wie er sich freut und seine Eltern und sein Freundeskreis mit ihm.“ Ein wichtiges Element zu Verinnerlichung ist auch das Schreiben. Hütter gab seinem Schützling ein Tagebuch. „Das hilft dabei, die eigentliche Aufgabe als Dauerarbeit an sich selbst zu begreifen.“ Inzwischen hat Oliver vier Hefte vollgeschrieben und fasst seine Erkenntnisse kurz und knackig zusammen: „Im Leben ist es wie beim Fußballspielen. Ich muss mich voll reinhängen und mir sicher sein, dass ich meine Ziele auch wirklich erreiche.“

Mit bmi hat Oliver Baumgärtner Selbstvertrauen entwickelt. Dazu Andreas Hütter: „Es ist für junge Menschen fundamental, dass sie lernen, sich selbst zu akzeptieren und ihre Stärken weiter zu entwickeln.“ Ganzheitliche Identitätsfindung, wie sie die Evangelische Jugendberufshilfe anbietet, sollte seiner Ansicht nach ein Unterrichtsfach werden. „Schüler müssen erst einmal auf die richtige Spur gesetzt werden. Was bedeutet es, wenn sie desinteressiert rumhängen – für sie selbst und für den Lehrer? Was für Werte sind ihnen wichtig? Was schätzen sie an sich selbst?“

„Building my identity“ hat die Evangelische Jugendberufshilfe in Kooperation mit dem Jugendmigrationsdienst (JMD) des örtlichen Diakoniewerkes in 2010 mit Mitteln aus dem „Pakt mit der Jugend NRW“ realisiert. Über die Schulabgänger hinaus wendet das Projekt sich auch an Jugendliche und junge Erwachsene mit Zuwanderungsgeschichte. In 2011 will Sabine Sinagowitz das Angebot weiterführen. Sie arbeitet dabei eng mit dem JMD zusammen, besucht Schulklassen oder geht mit ihnen in Unternehmen und begleitet das Solo-Training. Schüler und Lehrer, die sich dafür interessieren, können  sich direkt an sie wenden unter 0209 – 17 98 214 oder Sabine.Sinagowitz@ekvw.de.