Bloß nichts verpassen...

Wunsch zum 2. Advent

„Wenn aber dieses anfängt zu geschehen“ – eine Sensation steht uns bevor, ein atemberaubendes Ereignis, etwas nie zuvor Dagewesenes. Was soll das sein? Was kann in unserer Welt, in der eine Sensation die nächste jagt und ein Rekord den nächsten übertrifft, alles zuvor Erlebte noch toppen?

Es kündigt sich an, aber wir wissen nicht, woran wir seinen Anfang erkennen sollen, auf welche Kennzeichen wir achten müssen. Wie soll ich mich denn dann darauf angemessen vorbereiten?

Eins ist offenbar klar: Das sollten wir alle auf keinen Fall verpassen. Offenbar wird dieses Ereignis großes Aufsehen erregen, niemand wird sich diesem wunderbaren Vorgang entziehen können. ‚Bloß nicht diesen Moment verpassen!‘ denke ich mir. Unbedingt dabei sein, unbedingt die Zeichen der Zeit erkennen. Aber: einfacher gesagt als getan.

In einem anstrengenden Alltag, prall gefüllt mit täglich neuen Herausforderungen, Schreckensmeldungen in den Medien, persönlichen Erfahrungen von Krankheit und Sorge, dazwischen bunt glitzernder Weihnachtsrummel unter Einhaltung der Hygienevorschriften, willkommene Ablenkungen durch jingle bells und Zimtsterne – wie soll ich in diesem kunterbunten Wirrwarr jetzt noch darauf achten, den Anfang  nicht zu verpassen bzw. womöglich sogar meine Erlösung?

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben? Unglaublich!

Ich staune. Viele Sätze im 21. Kapitel des Lukasevangeliums sind eigentlich eher dazu angetan, den Kopf einzuziehen und sich weg zu ducken. In düsteren Farben malt Lukas die Zeichen der Zeit an die Wand. Eine Zeit voller Angst und Schrecken. Der Tempel in Jerusalem ist von den römischen Truppen zerstört worden. Die junge Christengemeinde muss sich auf schlimmste Verfolgungen gefasst machen. Erdbeben und Hungersnöte gehen durch die Nachrichten. Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Diese Stimmung kann ich mir vorstellen, ergänzt durch die Erzählungen meiner Eltern aus dem Krieg und der gefühlten Atmosphäre jetzt, angesichts monatelanger, unzähliger Corona-Meldungen. Viele von uns machen sich auf das Schlimmste gefasst!  Es kommt einem so vor, als hätten alle übrigen Lebensthemen Pause. Kein Blick nach rechts oder links. Tunnel!

Diese deprimierende Ausganglage nimmt Lukas auf und verwebt sie mit gängigen jüdischen Endzeitvorstellungen zu seiner sog. "Kleinen Apokalypse", die er Jesus als Predigt in den Mund legt. Und auf dem Höhepunkt dieser Angst einflößenden Predigt schließlich der Umschwung, die Frohbotschaft:

Wartet am Ende des Tunnels vielleicht doch auf uns ein helles Licht?

…dann seht auf

Das Wort „sehen“  bedeutet im engeren Sinne ‘mit dem Gesichtssinn wahrnehmen’. Was heißt das für uns in einem Alltag, in dem FFP2-Masken mich daran hindern, mein Gegenüber vollständig wahrzunehmen? Wie soll das gehen, wenn wir uns in den Lebensmittelläden und Fußgängerzonen mit gesenktem Kopf aneinander vorbeidrücken? Wenn die Brille beschlägt und ich möglichst auf Abstand gehe? Machen wir uns nichts vor. Wann haben wir – schon vor Corona – aufmerksam unser Gegenüber angeschaut? Wie oft haben wir uns in der Hektik und dem Einerlei unseres Alltags freiwillig unterbrechen lassen und von unserem Handy aufgeschaut? Hoch geblickt? "Augen auf, Kopf hoch!" Schaut zuversichtlich und hoffnungsvoll in die Zukunft, weil Gott kommt.

Seht auf und erhebt eure Häupter…

Was für ein toller Spruch! Schau nach vorne, schau nach oben – nicht immer nur nach unten mit niedergeschlagenen Augen. Schauen wir einmal auf unsere Körperhaltung! Indem ich meinen Kopf nach oben bewege, strafft sich meine Wirbelsäule, ich richte mich auf und meine Augen bekommen automatisch ein größeres Blickfeld. Genial! 

Dieser nach vorne gerichtete Blick und der erhobene Kopf, lässt uns die Welt mit offenen Augen sehen. Wir können Vieles mehr erkennen, mit offenem Blick, offenem Herzen und offenen Händen.

..eure Erlösung naht

Erlösung ist ein altes Wort in diesem Wochenspruch zum 2. Advent, das heute fast nur noch in kirchlichen Zusammenhängen gebraucht wird. Was sollen wir uns darunter vorstellen?

Ursprünglich bezog sich dieses griechische Wort in der Bibel auf die Freilassung eines Sklaven. Wir könnten also durchaus auch sagen: … weil eure Befreiung naht. Das ist mir schon viel näher. Ich denke an Entlastung, Entschärfung, Entspannung, Erleichterung. Und ich bin mir sicher, dass uns allen jede Menge Situationen einfallen, in denen uns Erleichterungen und Entlastungen guttun würden. Das wäre ja schön, wenn endlich angespannte Familienkonflikte entschärft würden, anstrengende Arbeitssituationen entlastet würden, in der Sorge um unsere Zukunft Erleichterung eintreten würden und sich mein Leben insgesamt entspannen würde.

Ja, auf jeden Fall, gerne sage ich dazu JA, aber wann soll das eintreten? Ich bin dabei, am besten sofort! Wäre es nicht erlösend, befreiend, wenn Jesus genau diese Dinge auch gemeint hat, als er von der nahen Erlösung gesprochen hat? Erlösung für alle Ewigkeit, gut, aber gerne auch Erlösung mitten in unserem Leben.

Gegen die lähmende Stimmung seiner und unserer Zeit schenkt uns das Evangelium Jesu einen ganz neuen Akzent: Jesus sieht in seiner Predigt einen neuen Himmel, eine neue Erde, die kommen werden. Er macht uns Mut zum Leben, zum verantwortlichen Anpacken der Aufgaben im Haus der Welt und ihrer Bewohner.

Advent. Gott kommt. Er kommt uns nahe, das heißt auch: wir sehen und erleben in der Tat unvermutete, strahlende Lachfalten hinter Masken in der vorweihnachtlichen Hektik; wir schenken ein aufmerksames Zuhören am Telefon, wir erhalten eine aufmunternde Whatsapp, wir erleben erstaunlich emotionale Videokonferenzen im Homeoffice, wir werden unglaublich kreativ, um einander nah zu sein, Wärme zu schenken und Neues zu sehen.

Warum können wir das, trotz düsterer Nachrichten und unklarer Prognosen?

Weil Jesus an unserer Seite ist, uns liebt und für uns da ist. Er kommt zu uns, damit wir leben können. Das ist die Botschaft, die der Wochenspruch zum 2. Advent uns vermittelt.

Und so wird für mich die Botschaft rund: Weil unsere Befreiung nahe ist, können wir aufblicken und erhobenen Hauptes durchs Leben gehen – im Blick auf unser Glück, mit Blick für unseren Nächsten und im Blick auf Gottes wunderbare Zukunft.

Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.

Herzlichst, Ihre
Dr. Elke Jüngling
Schulreferat des
Evangelischen Kirchenkreises
Gelsenkirchen und Wattenscheid