GELSENKIRCHEN – Das ist Pfarrer Peter Gräwe, wie er leibt und lebt: Er findet (um es vorsichtig auszudrücken) markige Worte für die Beschwernisse seiner Krankheit. Doch bevor das Mitgefühl sich richtig ausbreiten kann, erzählt er von einer Beisetzung im Friedwald Westerholt. Da er den Weg zum Grab nicht mehr zu Fuß bewältigen konnte, fuhr er hinter dem Bestatter auf einem E-Scooter. „Auf einmal wurde mir so eng am Hals.“ Des Rätsels Lösung: Sein Talar hatte sich um das Antriebsrad gewickelt. Die Trauergäste haben ihn dann aus seiner Zwangslage befreit. „Bei allem Ernst der Situation, wir mussten irgendwann alle lachen.“ Das war sechs Monate vor der Pensionierung „und der Talar war regelrecht perforiert. Meine Frau Tina hat sich echt aufgeregt: ‚Ich kaufe Dir doch jetzt nicht mehr einen neuen Talar!‘“
Peter Gräwe ist an Morbus Bechterew erkrankt. Ganz kurz und unwissenschaftlich ist das eine fortschreitende Verknöcherung der Wirbelsäule. Bei ihm sind in erster Linie die Lendenwirbel betroffen. Das verursacht extreme Schmerzen. Und die Beweglichkeit schränkt sich immer weiter ein. „Gerade Beerdigungen und Gottesdienste konnte ich kaum noch durchstehen.“ Deshalb ist er jetzt in den Ruhestand gegangen. Am 1. September hat ihn die Emmaus-Kirchengemeinde Gelsenkirchen mit einem Gottesdienst in der Altstadtkirche und einem Empfang im Gemeindehaus feierlich verabschiedet. „Es war absolut super“, sagte Gräwe rückblickend. „Die haben sich so viel Mühe gegeben, das war einfach nur schön.“ Etwa 450 Menschen haben teilgenommen – mit einer solchen Resonanz hatte er nicht gerechnet und freut sich riesig darüber.
Viele ziehen der Arbeit hinterher
25 Jahre lang war Peter Gräwe Gemeindepfarrer in der Gelsenkirchener Innenstadt. 1994 hatte die „Evangelische Kirchengemeinde Gelsenkirchen“ mit den Stadtteilen Altstadt und Neustadt 9.800 Gemeindeglieder, zwei Kirchen, zwei Gemeindehäuser, ein Krankenhaus, einen Pfarrer für die Krankenhausseelsorge und drei Gemeindepfarrer. Heute gehört sie mit den ehemaligen Gemeinden Rotthausen und Schalke zur Emmaus-Kirchengemeinde. In Alt- und Neustadt wohnen noch knapp 3.200 Gemeindeglieder, es gibt eine Kirche, ein Gemeindehaus und eine Pfarrstelle.
Die Altstadt, könnte man sagen, ist ganz einfach alt geworden. „Anfangs gab es zwei Seniorenheime, jetzt sind es sechs“, zählt Gräwe auf. „Zuletzt hatte ich 80 bis 120 Beerdigungen im Jahr, aber nur 10 bis 20 Taufen.“ Aus der Neustadt dagegen sind die Evangelischen weggezogen. Wer hier einzieht, ob mit Migrationshintergrund oder ohne, ist nicht evangelisch. „Die Mieten sind natürlich traumhaft günstig, aber es gibt keine Arbeitsplätze“, berichtet Gräwe. „Ich habe das ständig mit den jungen Leuten erlebt. Eine Zeitlang bleiben sie noch hier wohnen, arbeiten aber teilweise weit außerhalb, fahren täglich bis nach Köln oder so. Sobald sie es sich leisten können, ziehen sie der Arbeit hinterher.“
Ich mache erst mal gar nichts, bis auf…
Jeden Sonntag hat Pfarrer Gräwe in der Altstadtkirche Kindergottesdienst gefeiert. Das war ihm wichtig, ebenso wie der Helferkreis, für den er immer wieder junge und ältere Gemeindeglieder gewinnen konnte. „Ein großer Schwerpunkt war für mich auch die Posaunenarbeit. Das stand ausdrücklich in meiner Dienstanweisung und so habe ich die Arbeit aufgebaut und gepflegt.“ Landesposaunenwart für Westfalen bleibt er auch im Ruhestand. Ein dritter Schwerpunkt waren die „Computersenioren“, wie Gräwe sie nennt. Zusammen mit seiner Ehefrau Tina Gräwe und Gemeindemitglied Dieter Nafe gab er zuletzt sieben Kurse mit jeweils 14 Teilnehmenden. „Die Älteren fühlten sich völlig abgehängt von ihren Kindern und Enkeln. Deswegen haben wir Computerkurse gegeben, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten waren. Da konnten sie ihre Fragen auch zum zweiten oder dritten Mal stellen.“ Es tut ihm schon weh, dass diese Arbeitsbereiche wahrscheinlich nicht weitergeführt werden können. Für seine Vollzeitstelle ist der Emmaus-Kirchengemeinde nur noch eine halbe Pfarrstelle zugeteilt worden – und die ist auch noch auf sechs Jahre befristet.
Der Umzug aus der Pfarrwohnung in der Pastoratstraße ist bereits geschafft. Peter und Tina Gräwe fühlen sich wohl in der barrierefreien Wohnung am Brackeler Hellweg im Osten Dortmunds. Was kommt jetzt? „Ich mache erst mal gar nichts“, sagt er spontan. Na ja, bis auf die Arbeit als Landesposaunenwart natürlich und sein Hobby als Fotograf (das Studio ist eingerichtet, erste Passfoto-Kunden waren schon da) und demnächst wollen die Eheleute sich einen Posaunenchor suchen und Fahrradfahren, das geht noch und das macht er total gerne und dann dreimal in der Woche Physiotherapie… „Okay“, sagt er schließlich, „ich glaube nicht, dass ich Langeweile kriege.“