Wo Inklusion gelebt wird

Jubiläum: Das Wichernhaus feiert sein 50-jähriges Bestehen

50 Jahre Wichernhaus: Seit seinem Bestehen hat es viele Entwicklungen durchlebt. (von links) Christian Holl, stellvertretender Einrichtungsleiter, Winfried Blok, Jubilar und Bewohner, Stefan Paßfeld, Diakon und Einrichtungsleiter, Dr. Karl Bosold, Geschäftsführer Wichernhaus gGmbH und Bernhard Sürie, Jubilar und Bewohner, blicken auf ein Modell des Wichernhauses. FOTO: CORNELIA FISCHER

GELSENKIRCHEN – Seit 1967 ist das Wichernhaus im Gelsenkirchener Stadtteil Resser Mark ein Zuhause für erwachsene Menschen mit seelischen, körperlichen und geistigen Behinderungen sowie seelischen Beeinträchtigungen. In diesem Jahr feiert es sein 50-jähriges Bestehen – ein Anlass für Dr. Karl Bosold, Geschäftsführer der Wichernhaus gGmbH, und Stefan Paßfeld, Diakon und Einrichtungsleiter des Wichernhauses, zurückzublicken auf die Entstehungsgeschichte des Wichernhauses und seine Entwicklungen.
Wohnten zunächst 70 Jungen im Stammhaus, so bietet das Wichernhaus heute ein Zuhause für rund 180 Männer und Frauen. Die Einrichtung des Diakoniewerkes Gelsenkirchen und Wattenscheid e.V. hält für die unterschiedlichen Bedarfe seiner Bewohnerinnen und Bewohner vielfältige Wohnformen bereit. Das Wichernhaus zeichnet sich durch individualisierte Betreuung, die angebotenen Wohnformen und die heilpädagogische Unterstützung aus. Einrichtungsleiter Stefan Paßfeld ist das pädagogische Konzept besonders wichtig: „Vor 50 Jahren sollte im Wichernhaus auf die Bewohner nur aufgepasst werden, mittlerweile leben wir die Inklusion. Es hat sich unglaublich viel entwickelt und wird es auch noch in Bezug auf die pädagogischen Nuancen und Ziele in der Betreuung sowie die Wertvorstellungen in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. Wichtig ist, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht zu werden, von jung bis alt, oder auch den schwerstmehrfachbehinderten Menschen, und ihren Unterstützungsbedarf als Einrichtung abzubilden.“

Gemeinsames Leben in Wohngruppen

Im Jahr 1967 zogen zunächst Kinder und junge Männer mit Behinderungen im Alter von acht bis 25 Jahren in das Wichernhaus ein. Sie lebten anfangs zu zwölft oder auch bis zu 28 Personen in vier Wohngruppen zusammen. Um die 70 Bewohner kümmerten sich unter der Heimleitung des Ehepaares Binkowski in den ersten Jahren ein Oberpfleger und acht weitere Mitarbeitende. Die Jungen besuchten die städtischen Sonderschulen für geistig Behinderte, die Älteren – mit Schulabschluss oder vom Arbeitsamt gefördert – fanden Beschäftigung in einer Werkstatt. Bereits zehn Jahre später entstand ein weiteres Gebäude, das am 30. Oktober 1977 eingeweiht wurde. Die inzwischen erwachsenen Bewohner konnten bleiben und der Neubau bot genügend Platz, um im Altbau die Wohngruppen zu verkleinern. Im Wichernhaus, als Stammhaus, wurden inzwischen 60 Bewohner in sieben Gruppen betreut, während in den Erweiterungsbau 119 Männer im Alter von 16 bis 45 Jahren einzogen.
Ein Jahr später hielten die ersten Frauen im Wichernhaus Einzug. Der Frauenbereich war zunächst abgetrennt, doch wurde 1985 aufgelöst. Seitdem gibt es gemeinsame Wohngruppen für Männer und Frauen und bis heute hat sich diese Wohnform bewährt: Mittlerweile werden sogar unter den Bewohnerinnen und Bewohnern Beziehungen geführt und Ehen geschlossen. Inzwischen umfasst die Wichernhaus gGmbH neun Wohngruppen, vier Außenwohngruppen und für junge Menschen das Haus Amanda.

Musterbeispiel für andere Einrichtungen

Schon in den 1980ger Jahren galt das Wohngruppenkonzept im Wichernhaus in NRW als mustergültig. Die Architektur sollte den betreuten Menschen mit Behinderungen viel Selbstständigkeit ermöglichen und gleichzeitig Privatsphäre und Gemeinschaftserlebnis bieten, während der Umfang der Betreuung so gering wie möglich gehalten wird. Die daraus gewonnenen Erfahrungen haben das Wichernhaus im Laufe der Jahre zum Musterbeispiel für andere Einrichtungen in ganz Deutschland gemacht – es haben sich nicht nur das Gebäude und die Bewohnerschaft in Anzahl und Geschlecht verändert, ebenso wandelten sich deren Behinderungsbilder. Die Bewohner wiesen in den ersten zehn Jahren überwiegend geistige Behinderungen auf und Sinnesbeeinträchtigungen, Körperbehinderungen und psychische Störungen waren die Ausnahme. Hintergrund war die Anforderung, dass sie in der Lage sein sollten, die Werkstätten zu besuchen. Mit der Erweiterung der Wohnheimplätze ging 1977 ein Strukturwandel einher. Nicht nur die Anzahl der Bewohnerinnen und Bewohner nahm zu, auch die der Behinderungsbilder und die verschiedensten Persönlichkeiten. So konnten schwerstmehrfachbehinderte Menschen und auch solche mit zusätzlichen psychischen Auffälligkeiten in das Gruppengeschehen integriert werden. Daraus folgte die Gruppenbildung, die sich am Betreuungsbedarf orientierte. Dank dieser Maßnahmen konnte die spezifische Leistung bedarfsgerechter und persönlichkeitsnaher erbracht werden, obwohl die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner stieg – dies war der Beginn der Gruppenpädagogik im Wichernhaus.

Wohnformen und Freizeitgestaltung

Heute gibt es vielfältige Wohnformen im Wichernhaus. Je nach Grad der Behinderung und dem daraus folgenden Hilfe- und Pflegebedarf stehen den Bewohnerinnen und Bewohnern sechs stationäre und drei vollstationäre Wohngruppen zur Verfügung. In den stationären Gruppen leben Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, die entweder tagsüber einer Beschäftigung in einer Werkstatt nachgehen oder schon das Rentenalter erreicht haben. Das vollstationäre Wohnen ist erwachsenen Menschen mit mehrfachen Behinderungen vorbehalten, die dauerhaft und umfassend auf Hilfen in allen Lebensbereichen angewiesen sind. Weitere Menschen mit Behinderungen leben in den vier Außenwohngruppen in verschiedenen Stadtteilen Gelsenkirchens sowie im Haus Amanda. Gemäß dem Grundsatz ambulant vor stationär bietet das Wichernhaus seit 2003 den Dienst des Ambulant Betreuten Wohnens an. So können Menschen mit Behinderungen in eigenen Wohnungen leben, während ihre Eigenständigkeit gefördert wird.
Da Struktur und Kontinuität wichtig ist, ist auch ein geregelter Jahresablauf bedeutend, in dem Feste, Feiern und Gedenktage gemeinsam begangen werden. Ein regelmäßiger Austausch von Erinnerungen, Erlebnissen und Geschichten bereichert den Tag. Da dies auch für schwerstmehrfachbehinderte Menschen gilt, bietet das Wichernhaus durch tagesstrukturierende Angebote, die individuelle Interessen und Wünsche berücksichtigen, die Möglichkeit, ein erfülltes Leben in der Gemeinschaft zu führen.

Da das gemeinsame Feiern das Wir-Gefühl der Bewohnerinnen und Bewohner stärkt, beinhaltet die Pädagogik des Wichernhauses ein breites, abwechslungsreiches Freizeitangebot, beispielsweise Tagesausflüge, sportliche und musische Aktivitäten oder Reisen. Die Unternehmungen sind sehr unterschiedlich – es kann sowohl eine Planwagenfahrt als auch eine Schiffstour sein und es werden Musikveranstaltungen, Stadtfeste oder eine Kirmes besucht. Besonders beliebt sind allerdings die internen Feiern von Geburtstagen oder Jubiläen und ganz besonders die gruppenübergreifenden Karnevalsfeiern, Sommer- und Oktoberfeste.