Christen sollen Wahlrecht als Wahlpflicht verstehen

Die Gelsenkirchener Wahlkreiskandidaten stellten sich anderthalb Wochen vor der Bundestagswahl den Fragen von Dieter Heisig und dem Publikum

Superintendent Heiner Montanus (links) und Stadtdechant Markus Pottbäcker eröffneten den Kandidatencheck der Christlichen Sozialverbände.

Superintendent Heiner Montanus (links) und Stadtdechant Markus Pottbäcker eröffneten den Kandidatencheck der Christlichen Sozialverbände.

Beantworteten die Fragen von Pfarrer Heisig und aus dem Publikum: (von links) Andreas Gilles (FDP), Irene Mihalic (Grüne), Ingrid Remmers (Linke), Markus Töns (SPD) und  Oliver Wittke (CDU).

Beantworteten die Fragen von Pfarrer Heisig und aus dem Publikum: (von links) Andreas Gilles (FDP), Irene Mihalic (Grüne), Ingrid Remmers (Linke), Markus Töns (SPD) und Oliver Wittke (CDU).

Die Gäste stellten Fragen vor allem zu den Themen Bildung, Rüstung, Digitalisierung und Automobilkrise. PHOTOS: CORNELIA FISCHER

Die Gäste stellten Fragen vor allem zu den Themen Bildung, Rüstung, Digitalisierung und Automobilkrise. PHOTOS: CORNELIA FISCHER

GELSENKIRCHEN – Etwa 80 interessierte Bürger sind der Einladung der christlichen Sozialverbände gefolgt. Den Anfang macht Superintendent Heiner Montanus, indem er seinen katholischen Kollegen Markus Pottbäcker fragt: „Wonach entscheidest du, was du wählst?“ „Nach dem Stellenwert der Menschenwürde, so wie es im Evangelium steht. Und nach Umweltschutz, also Respekt vor der von Gott geschenkten Schöpfung.“ Dann stellt er Montanus die gleiche Frage. „Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ich gehöre zu den ersten, die den Krieg nur noch vom Hörensagen kennen. Das verdanken wir Europa.“ Pottbäcker wählt übrigens immer im Wahllokal. „Und das sehr bewusst. Am Wahlsonntag erinnere ich in der Messe die Gemeinde, wählen zu gehen. Und dann gibt es eine Art Prozession von der Kirche ins Wahllokal. Christen sollen ihr Wahlrecht als Wahlpflicht verstehen.“

Dann begrüßt Industrie- und Sozialpfarrer Dieter Heisig seine fünf Gäste auf der Bühne und gibt jedem eine Minute Zeit für jede Frage. Die innere Sicherheit ist ein Heimspiel für die Polizeibeamtin und Grünen-Politikerin Irene Mihalic: „Die Zusammenarbeit in der Polizei muss besser klappen. Das hat der Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin bewiesen.“ Andreas Gilles, der den kurzfristig verhinderten Marco Buschmann (FDP) vertritt, ergänzt: „Die Aufteilung in Landes- und Bundespolizei ist so nicht in Ordnung, das muss gestrafft werden.“ Heisig fährt fort: „Soll die Türkei in der NATO bleiben und Mitglied der EU werden?“ Mit Ausnahme der Linkspartei, die die NATO ohnehin ablehnt, bezeichnen alle die Türkei einen wichtigen NATO-Partner zur Terrorismusbekämpfung. Oliver Wittke (CDU) plädiert für weitere EU-Beitrittsgespräche, Markus Töns (SPD) ist anderer Meinung: „Die Türkei ist von einem Rechtsstaat weit entfernt. Der mögliche EU-Beitritt ist komplett vom Tisch.“


Kritik am Aus für den Sozialen Arbeitsmarkt

Beim Thema Arbeit merkt Heisig als erstes an, dass Leiharbeiter in anderen Ländern mehr Lohn bekommen als die Stammbelegschaft – als Bonus für ihre Flexibilität. Wittke und Gilles lösen Gelächter im Publikum aus, als sie anmerken, dass Leih- und Zeitarbeit ein gutes Sprungbrett in unbefristete Beschäftigungen sei und die Merkel-Regierung auf diese Weise die Arbeitslosigkeit massiv reduziert habe. Töns und Mihalic reagieren entsetzt: „Mit Leiharbeit sind gerechte Löhne nicht möglich. Die führt nur zu prekären Beschäftigungsverhältnissen und ist nur bei triftigen Sachgründen gerechtfertigt.“

Die Linkspartei-Vertreterin kritisiert die Familienpolitik deutlich: „Freibeträge schaffen keine Entlastung. Es gibt. Wir brauchen für zwei Millionen von Armut bedrohte Kinder in Deutschland eine Mindestsicherung, die für ein angemessenes Leben reicht. Alles andere ist ein Armutszeugnis für das fünftreichste Land der Welt.“ Auch die Grünen fordern ein Familienbudget, die SPD ein erweitertes Kindergeld, eine funktionierende Mietpreisbremse und eine Entlastung von Geringverdienern. Nur FDP-Vertreter Gilles kann dazu nichts sagen.

Bevor Heisig auf die Rente zu sprechen kommt, lobt er seine fünf Gäste für ihr Durchhaltevermögen. Mihalic stellt das Konzept ihrer Partei vor: „Alle, auch Selbstständige und Beamte, sollen für die Rente in eine Bürgerversicherung einzahlen.“ Töns und Remmers schließen sich dem an. Gilles und Wittke bleiben bei ihrem Konzept von einem Mix aus gesetzlicher Rente und privater Vorsorge – auf Basis einer guten Beschäftigung.

„Was ist Ihre Vision von Europa?“ Über die langfristige Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ herrscht weitestgehend Konsens. Töns erinnert daran, dass die SPD diese Idee schon seit 1925 in ihrem Programm habe. Mihalic ergänzt: „Eine solidarische und ökologische Modernisierung. Wir dürfen nicht Nord- und Südeuropa gegeneinander ausspielen. Es käme ja auch keiner auf die Idee, Schleswig-Holstein und Bayern gegeneinander auszuspielen, auch wenn Seehofer das gerne täte.“

Kritik entzündet sich auch am Ende des sozialen Arbeitsmarktes in Gelsenkirchen. Wittke verteidigt seine Düsseldorfer Parteikollegen: „Hier in Gelsenkirchen ist die Lage extrem: 8 000 der 18 000 Arbeitslosen sind Langzeitarbeitslose. Der soziale Arbeitsmarkt kann keine Endstation sein. Das Ziel bleibt der erste Arbeitsmarkt.“ Damit löst er allerdings bei Töns Kopfschütteln aus: „Der erste Arbeitsmarkt ist nicht das einzig Wahre. Es gab ein solches Konzept sogar schon für ganz Deutschland. Damit ist Andrea Nahles immerhin am Finanzstaatssekretär vorbeigekommen, nur nicht am Finanzminister.“


Warum sollen wir Sie wählen?

Danach ist das Publikum an der Reihe. Werner Skiba von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung und Klaus Wehrhöfer vom Kolpingwerk gehen mit Mikrofonen durch die Reihen und sammeln Zuschauerfragen. Digitalisierung, Bildung, Rüstung und die Automobilkrise brennen dem Publikum besonders unter den Nägeln. Die Fragen gehen gebündelt an das Podium. Remmers kritisiert zuerst die Bildungspolitik: „Wir brauchen gemeinsame Bildung statt einem selektiven Schulsystem. Schon in die Grundschulen muss mehr investiert werden. Nur so haben alle gleiche Chancen.“ SPD und Grüne fordern auch ein Ende des Kooperationsverbots, damit der Bund sich an den Bildungskosten beteiligt. Wittke verteidigt die aktuelle Bildungspolitik: In keinem Bereich sei der Etat in den letzten zwölf Jahren so stark erhöht worden wie in der Bildung.

Die Forderung nach mehr Rüstungsinvestitionen stößt besonders bei Mihalic auf Widerstand: „Eine friedliche Weltordnung ist unabdingbar. Dafür braucht man eine starke UN und zivile Krisenprävention statt Militär.“ Auch für den Klimaschutz hat ihre Partei einen Fahrplan: „Kohleausstieg bis 2030. Und ab 2030 keine neuen Autos mit Verbrennungsmotoren mehr zulassen. Das wird einen Innovationsschub geben.“

Heisigs letzte Frage lautet: Warum sollen wir Sie wählen? Wittke beginnt: „Die CDU garantiert Stabilität und findet den Mittelweg zwischen Solidarität und freier Entfaltung. Und die Klimakanzlerin Merkel hat bewiesen, dass Wirtschaft und Ökologie keine Gegensätze sind.“ Töns kann mit dem SPD-Wahlprogramm „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ punkten: „Wir fordern einen dauerhaften sozialen Arbeitsmarkt, eine paritätische Finanzierung der Krankenkassen und eine solidarisierte EU mit Martin Schulz als Kanzler.“ Remmers bezeichnet ihre Linkspartei als „die einzige, die sich konsequent für den Frieden einsetzt. Und für gerechte Steuern und weltweite Solidarität im Sinne von Che Guevara.“ Mihalic nennt die Grünen die „einzige konsequent nachhaltige Partei. Wir dürfen den Planeten nicht ausbeuten, wir haben keinen Planeten B. Der Mensch muss im Mittelpunkt der Politik stehen, nicht Profitinteressen.“ Zuletzt argumentiert Gilles für Marco Buschmann: „Er war stark beteiligt an den Neuerungen, die die FDP nach dem verdienten Ausscheiden aus dem Bundestag angegangen ist. Und er hat die beste Kompetenz in Bildung und Digitalisierung.“